Diskussionskultur - Wikipedia gegen Wikipedia
Dienstag, 28. September 2010 | Autor: Nico
Die Wikipedia ist immer für eine Diskussion gut. Eine ganze Weile lang stand die Frage nach der enzyklopädischen Zuverlässigkeit1 im Vordergrund. Diese Feuerprobe hat Wikipedia mit links bestanden und dabei Papierenzyklopädien in die Bedeutungslosigkeit gedrängt.
Nun gibt es aber seit einiger Zeit neue Diskussionen. Diskussionen, die sich um Vorgänge innerhalb der Wikipedia drehen. Wann ist ein Artikel relevant? Wer entscheidet das? Sind diese Entscheidungsprozesse transparent genug?
Schuld und Freiwilligkeit
In solche Diskussionen sind im Wesentlichen vier Gruppen2 eingebunden: die Wikipedianer3, also Admins und Autoren, die reinen Nutzer4 und neuerdings die Wikipedisten5.
Es ist eine unangenehme Debatte. Autoren bemängeln Admin-Willkür, Nutzer mangelnde Qualität, Admins fehlende Partizipation. Die Wikipedianer halten die Forscher eher für unwissende Außenstehende und andersherum. Insgesamt fühlen sich alle irgendwie unverstanden oder angegriffen, oft auch zurecht.
Woran liegt das nun? Ich denke eines sollten wir immer im Hinterkopf behalten:
Keine dieser Gruppen schuldet den anderen irgendetwas.
Die Admins verwalten, gestalten und befassen sich andauernd mit komplexen und/oder dämlichen Konflikten. All das tun sie freiwillig und unentgeltlich. Gleichwohl stellen Autoren und Nutzer Forderungen - nach mehr Demokratie, Transparenz, Bürokratieabbau und objektiver Gerechtigkeit.
Die Autoren wiederum schreiben, ergänzen, aktualisieren, korrigieren Artikel. Auch sie arbeiten freiwillig und unentgeltlich. Dennoch fordern die Admins Engagement und mehr Eigeninitiative ein und setzen die Kenntnis umfangreicher Dokumente bezüglich Policy, Regeln, Entscheidungskriterien und Abläufen formaler Verfahren innerhalb der Wikipedia voraus.
Die Wikipedisten schauen von außen auf das Projekt. Ihr Rolle ist noch nicht so klar, aber auch hier zeichnen sich Konflikte dahingehend ab, was die Wikipedianer für die Gesellschaft leisten sollen. Ein ähnlicher Standpunkt wie ihn auch die Nutzer innehaben. Da aber das ganze Projekt auf Freiwilligkeit basiert, hat auch die Gesellschaft keine legitimen Ansprüche gegen dessen Macher, die Wikipedianer.
Niemand schuldet irgendjemandem irgendetwas, folglich können wir von niemandem wirklich Rechenschaft verlangen6.
Ich denke dies ist den Beteiligten selten klar - daher läuft jede Diskussion Gefahr, ins Unproduktive zu degenerieren.
Kritik in einem System ohne Rechenschaft
Trotz allem gibt es ja Probleme und Kritik. Wen aber trifft Kritik, wenn wir niemandem zur Rechenschaft ziehen können? Niemanden? Ist ein kritischer Standpunkt dann überhaupt nützlich? Vielleicht sollten wir den Schritt vom Problem zur Kritik schlicht nicht gehen?
Ein Ausweg wäre, nicht Gruppen oder Verhalten zu kritisieren, sondern Strukturen. Dieser Weg funktioniert, sofern sich niemand mit den vorhandenen Strukturen identifiziert. Ist das in der Praxis der Fall? Nur 40%7 aller Regeländerungen werden von Admins gemacht. Ziemlich wenig - andere Systeme wie etwa Staaten oder Firmen erscheinen im Vergleich dazu diktatorischer. Für mich deutet es darauf hin, dass die bestehenden Strukturen keineswegs so starr sind, dass man sie nicht ändern könnte.
…
An dieser Stelle kann ich im Grunde nichts weiter schreiben. Hier gilt: Es gibt nichts Gutes außer man tut es.
Pragmatismus statt Schuldsuche
Es gibt noch eine Art Kritik, die man trotzdem üben kann - Selbstkritik. Die anderen sind uns nichts schuldig - was können wir also selbst tun?
Inspiriert wurde dieser Artikel von einem Dialog bei der CPOV in Leipzig. Es ging um das Problem, dass zwar Gesprächsangebote seitens der Wikipedianer, etwa Stammtische, angeboten werden, diese aber schlicht nicht genutzt werden. Es entspann sich ungefähr, ich habe es nicht mitgeschrieben, folgender Dialog:
Anne Roth: Dann müssen die [Stammtische] eben besser beworben werden.
Wikipedianer: Aber ist das mein Problem?
Anne Roth: Ja. Ihr habt nur diese Bevölkerung.
Natürlich kann man als Wikipedianer sagen „Wer nicht will, der hat schon. Da kann ich auch nichts machen.” Diesen Standpunkt kann man auch problemlos rechtfertigen. Er hat allerdings auch einen starken Feind - die Realität.
Die sieht so aus, dass Wikipedia immer besser wird - es dadurch aber auch immer aufwändiger wird, die Qualität noch einmal zu steigern. Schon die oberflächliche Überarbeitung eines mittellangen Artikels nimmt schnell mehrere Nachmittage in Anspruch. Wie viele Autoren gibt es, die bereit sind, dieses Engagement zu leisten? Sind es wirklich so viele, dass die Wikipedia sich eine „Wer nicht will, der hat.”-Mentalität leisten kann?
Mal angenommen dem ist nicht so. Dann müssen die Wikipedianer zwangsläufig anfangen, aktiv auf potentielle Autoren zuzugehen und für die Sache zu begeistern. Das hat zwar was von Bettelei und kostet obendrein Zeit und Nerven, aber so ist halt die Realität und wir werden lernen müssen, damit umzugehen.
Doch auch die Autoren werden realistischer werden müssen. Es ist immer leicht, mit dem Finger auf die Admins zu zeigen, aber Kritik hin oder her - die Fülle an Dokumentation, die Verfahrensweisen, die Hierarchien - das ist alles nicht grundlos vom Himmel gefallen. Admins gibt es, um Vandalismus zu bekämpfen und zumindest minimale Qualitätsstandards zu sichern. Verfahren sind deshalb komplex, weil sie in einem chaotischen System möglichst demokratische Entscheidungen herbeiführen wollen. All das muss auch dokumentiert werden, schlicht um das Rad nicht bei jedem Konflikt neu erfinden zu müssen.
Wo geht die Reise hin?
Ich denke wir müssen uns bewusst machen, dass wir uns mit dem aktuellen Schwarzer-Peter-Spiel nur ins eigene Fleisch schneiden. Keine der beteiligten Gruppen kann die Wikipedia im Alleingang aufrecht erhalten - indem wir einander bekämpfen, bekämpfen wir das gesamte Projekt.
Doch ich glaube fest daran, dass wir diesen kleinen Tiefpunkt überwinden und Wikipedia gestärkt daraus hervorgehen kann! Ich glaube, dass der Großteil der Wikipedia gewillt ist, die veränderte Situation nicht nur zu überstehen, sondern das beste aus ihr herauszuholen!
Wenn wir das schaffen, weist Wikipedia in zehn Jahren vielleicht eine Qualität und Quantität auf, die wir heute noch für unrealistisch halten.
- Nicht zu verwechseln mit beispielsweise wissenschaftlicher Zuverlässigkeit. ↩
- Wie jedes Kategoriensystem ist diese Einteilung höchsts unscharf und willkürlich. Gerade bei Wikipedia verschwimmen die Grenzen im Einzelfall beliebig stark. Die folgenden Fußnoten tragen hoffentlich dazu bei zu klären, wen ich jeweils meine. ↩
- Wikipedianer: Intensiv im Projekt eingebundene Autoren und Admins. Diese Leute sitzen im Maschinenraum der Wikipedia - sie wissen, wie alles funktioniert und bekommen viele der alltäglichen Probleme der Wikipedia zu spüren. ↩
- Nutzer: Leute, die primär lesen, und nur gelegentlich schreiben. Sie sympathisieren mit dem Projekt haben aber keinen tiefen Einblick darin. Aus dieser Gruppe rekrutieren sich die dauerhaft aktiven Autoren und später die Wikipedianer, aber auch deren Kritiker. ↩
- Wikipedisten: Akademiker, die an und um die Wikipedia forschen. Sie schauen von außen auf die Wikipedia und gewinnen wissenschaftliche Erkenntnisse über das Projekt, dessen Grundlagen und Interaktion mit der Gesellschaft. ↩
- Randnotiz: Der Wikipediaartikel zu Rechenschaft wurde gelöscht. *gg* ↩
- Diese Zahl kommt aus meinem Gedächnis an den Vortrag von Pentzold. ↩